„ …gib mir ein Lied und ich beginne zu fliegen!“
1.Oktober 2017. Joseph-Beuys-Ufer 33, Rheinterrasse.17 Uhr: Mit dem Erlöschen des Lüsters unter der goldfarbenen Kuppel und dem Art Déco Ambiente im Dämmerlicht trägt der mondäne Rheingoldsaal gewiß das Seine zu einem sonderbar surrealen Auftritt bei: Kleine Gruppen und Einzelgestalten betreten den Vorraum der Bühne, gesenkten Kopfes, das Gesicht ins blaue Licht ihrer Handys getaucht. Summen, Wispern, dissonante Klangfragmente scheinen von ihnen auszugehen, Geräusche wie vom Murmelgrund der Welt. Eine lichte, tanzende Mädchengestalt wird auf sie aufmerksam, durcheilt die Stehenden und sammelt ihre Handys in eine gläserne Schale hinein, trägt sie und ihr blaues Leuchten davon. Da geht ein Erwachen und Erkennen durch die reglos Stehenden, als würden sie einander erst in diesem Moment wahrnehmen und stellen sich mit großer Bestimmtheit in Chorformation auf. A cappella führen sie das Publikum mit dem achtstimmigen „Ave Maria“ von Franz Biebl in ein vielgestaltiges, abendfüllendes Konzert.
Die Akademie für Chor und Musiktheater präsentierte mit „…gib mir ein Lied und ich beginne zu fliegen!“ ihre Kinder- und Jugendchöre erstmalig in einer Eigenproduktion. Im Rahmen des düsseldorf festival! führte sie vor ausverkauftem Haus durch ein knapp zweistündiges Programm, in dem chorisch und solistisch, choreografisch und schauspielerisch sich jene künstlerische Vielfalt spiegelte, mit der die jungen Choristen in ihrer Ausbildung konfrontiert sind. Geistliches und romantisches Chorgut, Opernparts, Musicalsongs, Jazz, Experimentelles, verbunden durch schauspielerische Miniaturen und bildhaft kommentierende Projektionen ließen dem mitgerissenen Publikum das Fehlen einer Pause kaum bewusst werden.
In 17 Titeln führten Chorleiterin Justine Wanat und Choreografin Victoria Wohlleber ihre Sängerinnen und Sänger durch ein Konzert, das neben anspruchsvoller Popularmusik zeitferne Musiksprachen unter dem großen Thema Liebe miteinander verband und genreübergreifend für spannende Akzente sorgte. Eine reine Freude war es zu hören, wie das strahlend schöne Grundmaterial der jungen Stimmen in wechselnden Formationen, biegsam nuanciert, mit den musikalischen und textuellen Vorgaben in Einklang gebracht worden ist. Justine Wanat verlangte ihren jugendlichen Choristen tatsächlich Pflicht und Kür in einem ab: die auf den Schlag genaue Taktkenntnis, die präzise Intonation und die (keineswegs selbstverständliche) sprachliche Ausformung der Texte … und das alles bei gleichbleibend hoher, auf unterschiedlichste Stile gerichteter Gesangsqualität!
Das Konzept, die jungen Sängerinnen und Sänger bis an Grenzgebiete des Musikalischen zu führen, zeigte sich eindrucksvoll bei dem 1966 komponierten „Vox Tronica“, einem gänzlich auf Non-Verbales reduzierten Werk, in dem Rhythmus, Gestik, Lautgebung und Tonhöhe zur Einheit verschmelzen … als vorletztes Stück des Konzertabends schien es ein geheimnisvoller Rückverweis zu sein auf die Eingangsszene mit ihren uranfänglichen Grundmustern stimmlicher Klangerzeugung.
„…gib‘ mir einen Stubs und ich beginne zu fliegen!“ In Abwandlung des Konzertmottos ist man an einen Jungvogel erinnert, der spürt, dass es nur noch eines beherzten Impulses bedarf um losfliegen zu dürfen. Ähnliches mag dem einen oder anderen Im Publikum durch den Kopf gegangen sein, als die Solisten des Kinder- und Jugendchors die Bühne betraten und mit Mozart, Puccini, Schumann, Sinead O‘Connor bezaubernde Lehrlingsstücke ablegten. Es war anrührend zu hören, wie alles in diesen jungen Stimmen schon angelegt ist: das kostbare Timbre, das plötzliche Aufglänzen bestimmter Stimmlagen … lauter Zauberflöten. Drei ehemalige Chormitglieder waren von Frau Wanat zu Gastauftritten eingeladen worden, alle drei in fortgeschrittener Gesangsausbildung – werden sie sich wohl an ihre ersten Chor- und Soloauftritte erinnert haben? Mit ein wenig Wehmut vielleicht, wie das so ist, wenn sich für Augenblicke wieder einmal die Tür zu den Liedergärten von einst öffnet.
Großer Beifall, durch ostinates Fußtrampeln verstärkt, belohnte eine Inszenierung, in der sich 55 junge Akteure mit all ihrem sängerischen Leistungsvermögen und ihrer leidenschaftlichen Darstellungslust einbringen konnten, er galt auch Justine Wanat und ihrem großen Talent der Förderung und Ausbildung jugendlicher Stimmtalente, Victoria Wohlleber für ihre wunderbar bildhafte Übertragung der musikalischen Vorgaben ins Choreografische und Schauspielerische sowie der einfühlsamen musikalischen Begleitung durch die Konzertpianistin Iskra Ognyanova. Ebenso wurde Annette Lessing für Design und Projektionen gewürdigt wie auch für ihr punktgenaues Supervising der Abläufe des Abends.
Was vielen auf dem Heimweg in den Ohren geklungen haben mag: das Lied, das wohl zum Titel des Konzertes inspirierte: „Give me Wings“ von John Rutter, in welchem das Lebensgefühl junger Menschen, ihre Wünsche, ihre Träume, ihre Sehnsucht nach Zweisamkeit, uns allen den Gedanken an eine geheilte Welt mit auf den Weg gab.
Ludger C. Prendergast
Musikalische Leitung: Justine Wanat
Choreografie: Victoria Wohlleber
Klavier: Iskra Ognyanova
Konzeption und Regie: Justine Wanat, Victoria Wohlleber, Lea Sikau, Annette Lessing, Manuel Wittazscheck
Projektionen: Annette Lessing